Interview mit Hanna Neumeister 1985

 

Therapie-Freiheit und freie Arztwahl sind Markenzeichen eines freien Gesundheitswesens

 

Bonn – Die rheumatischen Erkrankungen schlagen volkswirtschaftlich mit 60 bis 80 Milliarden DM zu Buche und sind damit die „teuerste Erkrankung der Welt“ und eine intensive Belastung des Sozialbereiches.

 

Darum ist besonders hier der Gesetzgeber gefordert, einen Missbrauch der parlamentarischen Entscheidungen zur Kostendämpfung zu unterbinden. Auch müssen Korrekturen an der Entwicklung der Heilverfahren überdacht und insgesamt – unter voller Einbeziehung der Erfahrungsheilkunde – neue Akzente gesetzt werden, meint die Bundesabgeordnete und Präsidentin von Rheuma-Liga und Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung, Frau Dr. Hanna Neumeister. Die DNÄ nutzte die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch.

 

DNÄ: Frau Dr. Neumeister, Sie sind Präsidentin der Rheuma-Liga. Welchen Stellenwert nehmen die rheumatischen Erkrankungen hier bei uns in der Bundesrepublik ein?

Neumeister: Die rheumatischen Erkrankungen sind zwar seit Jahrhunderten bekannt, aber doch in ihrer epidemiologischen Bewertung noch nicht so differenziert erfasst, dass man jeweils klare Morbiditätszahlen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten nennen könnte. Grund dafür ist, dass das Wort „Rheuma“ den Weg zum Begreifen des Leidens versperrt, denn im täglichen Sprachgebrauch – doch auch gelegentlich noch in der ärztlichen Diagnostik – bezieht es sich auf unterschiedliche Beschwerden, die viele Menschen besonders mit zunehmenden Alter betreffen, und vermischt sie zwanglos mit den schwersten, oft lebensbegleitenden Erkrankungen mit fortscheitenden Behinderungen, zum Beispiel der schweren chronischen Polyarthritis.

 

Wie umstritten die epidemiologische Basis ist, zeigen die Schätzungen deutscher Rheumatologen über die Zahl der Rheumakranken in der Bundesrepublik Deutschland, die zwischen zwei und zehn Millionen schwanken.

 

In sozio-ökonomischer Hinsicht kommt der rheumatischen Erkrankung vor allem deswegen große Bedeutung zu, weil sie als „teuerste Krankheit der Welt“ und als intensivste Belastung des Sozialbereichs anzusehen ist. Die Tatsache, dass

- etwa zehn Prozent der Arbeitsunfähigkeitsfälle rheumatische Erkrankungen als Ursache haben,

- diese aber auch für zwanzig Prozent der Berufsunfähigkeitsrenten verantwortlich gemacht werden und

- ebenso bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten an zweiter Stelle der Statistik stehen,

 

erklärt die Kosten, die durch diese Krankheit entstehen und einschließlich der volkswirtschaftlichen Belastung durch Produktsaufall und Steuer – sowie Beitragsminderungseinnahmen – auf 60 bis 80 Milliarden DM pro Jahr geschätzt werden.

 

DNÄ: Gerade in dem weiten Indikationsfeld Rheuma haben sich im Laufe der Jahre zahllose Selbsthilfegruppen etabliert. Halten Sie diese Hilfe durch Selbsthilfe für sinnvoll oder gehören Erkrankungen dieser Art nicht besser in die Hand eines erfahrenen Arztes?

Neumeister: Auf jeden Fall bedarf der schwer Rheumakranke der Diagnose und Therapie durch den Arzt.

 

Wie bei anderen chronischen Erkrankungen lässt sich auch bei den Rheumakranken bereits seit Jahren ein Mangel in der gesundheitlichen Versorgung erkennen und zwar die fehlende soziale, vor allem familiäre Abstützung der Kranken, die täglich um die Erhaltung ihrer Funktionen zu kämpfen haben, die zum Beispiel nach klinischer Behandlung erst lernen müssen, mit der nicht mehr zu behebbaren „Restbehinderung“ so gut wie möglich zu leben.

 

Die sich mehr und mehr auflösende Familie, die einem von Krankheit Betroffenen nicht mehr hinreichend helfen kann, und eine sich dynamisch entwickelnde Gesellschaft, die diese Menschen schnell aus dem inneren Gleichgewicht bringen kann, fördern die Bildung von Selbsthilfegruppen, die sich bemühen, die vorhandenen Lücken zu schließen. In der Gruppe schafft der Geschwächte mehr! Notwendig aber ist eine enge Zusammenarbeit der Selbsthilfegruppe mit dem Arzt.

 

DNÄ: Seit nunmehr 125 Jahren besteht kein Zweifel daran, dass rheumatische Erkrankungen, wie beispielsweise die chronische Polyarthritis, entzündliche Prozesse sind, das bedeutet, alle therapeutischen Ansätze hatten antiphlogistischen Charakter. Hat sich an dieser Auffassung in den letzten Jahren etwas geändert?

Neumeister: Auch heute ist die Kausalität der chronischen Polyarthritis noch nicht bekannt. Aus diesem Grunde benutzt man nach wie vor – meistens aufbauend auf einer Basistherapie – Therapeutika, die vorwiegend entzündungs- und schmerzhemmend wirken, also symptomatisch. Eine wichtige Ergänzung dazu ist eine Bewegungstherapie.

 

Neuerdings hofft man auf eine neue, mehr ursachenbezogene Therapie in Form des gentechnisch gewonnenen Gamma-Interferons, das sich in den ersten klinischen Studien als vielversprechender Wirkstoff gegen die chronische Polyarthritis erwiesen hat.

 

Man vermutet, dass dieses Immun-Interferon bei immunologischen Prozessen, die im Körper des Polyarthritikers ablaufen, gewissermaßen eine Art „Vermittlerrolle“ spielt, indem es auf vielfältige Weise auf verschiedene Zellen der Immunabwehr einwirkt. Bis zu einer Zulassung dieses neuen Stoffes für die allgemeine Anwendung muss aber sicherlich noch einiges an Grundlagenforschung und angewandter Forschung geleistet werden.

 

DNÄ: Die Befunde von Professor Fassbender deuten darauf hin, dass kurzlebige, tumorähnliche Zellverbände für die Polyarthritis verantwortlich zu machen sind. Glauben Sie, dass künftig nachhaltigere therapeutische Erfolge mit Zytostatika zu erzielen sind?

Neumeister: Ich kenne die faszinierenden Bilder aus dem pathologischen Institut von Herrn Professor Fassbender, mit denen er beweisen kann, dass die Destruktion des Gelenkknorpels und Knochens nicht allein Folge der Entzündung ist, sondern dass sie durch synoviogene Zellverbände mit einer bestimmten enzymatischen Ausrüstung hervorgerufen wird. Aus dieser Erkenntnis heraus werden sich vermutlich auch andere therapeutische Maßnahmen ableiten lassen, über die ich jedoch als Laie keine Aussagen machen kann.

 

DNÄ: In den Medien wird zum Teil von erstaunlichen Erfolgen in der Rheumatherapie durch Methoden der Erfahrungsmedizin berichtet. Welche naturheilkundlichen Verfahren wären hier aus Ihrer Sicht heraus indiziert?

Neumeister: Die beschriebenen Erfolge der Erfahrungsmedizin müssen auch in der Rheumatologie zur Kenntnis genommen und ernsthaft geprüft werden.

 

Ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel durch die Steigerung der körpereigenen Abwehr bei bestimmten Formen der rheumatischen Erkrankungen eine positive Wirkung zu erzielen ist, die durch die Erkenntnis aus der Immunpathologie begründbar wäre.

 

Darüber hinaus ist es aber sicherlich notwendig, der Frage nachzugehen, ob und in welcher Weise eine Ernährungsumstellung auf den Verlauf der unterschiedlichen rheumatischen Erkrankungen Einfluss hat.

 

DNÄ: Eine Frage an Sie in Ihrer Eigenschaft als Präsidentin der Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung. Eine Allensbacher Studie macht deutlich, dass sich besonders jene Menschen der Erfahrungsmedizin hinwenden, die als persönlichkeitsstark, als Meinungsbildner zu bezeichnen sind. Wie interpretieren Sie diesen Befund?

Neumeister: Ich kenne diese Studien nicht und kann sicherlich auch keine plausible Erklärung dafür finden. Vielleicht könnte man sich als Begründung für die Entwicklung vorstellen, dass Menschen, die intensiv nachzudenken und vor allem eigenverantwortlich zu handeln gewohnt sind, sich nicht damit zufrieden geben, von einem Arzt lediglich ein Medikament verschrieben zu bekommen, um – gewissenhaft passiv – auf eine positive Wirkung hoffen zu dürfen.

 

Besonders unbefriedigend wird ein solches Vorgehen für sie sein, wenn die Verschreibung nicht mit einer plausiblen und überzeugenden Begründung dieser ärztlichen Entscheidung und einer Aufklärung über mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen verbunden ist.

 

Hinzu kommt häufig – vielleicht auch unbewusst – die durch entsprechende Öffentlichkeitsinformation künstlich erzeugte Angst vor chemischen Erzeugnissen im Allgemeinen. Wird der bei fast allen Menschen heute zu beobachtende Trend zu natürlichen Stoffen in der Arztpraxis oder der Apotheke jedoch unterstützt durch eine verständliche Beratung und möglichst eine Anregung zu bestimmten Verhaltensweisen, also zu Aktivität gegenüber einer Missbefindlichkeit oder Krankheit, muss ein an Eigeninitiative gewöhnter Mensch sich wohltuend aktiv in das Behandlungsgeschehen eingebunden und weniger hilflos fühlen.

 

Diese meine Begründung ist allerdings vornehmlich abhängig von der Methode des Arztes, ein Medikament zu verschreiben oder anzubieten.

 

Bei schweren akuten Erkrankungen aber wird meines Erachtens in den meisten Fällen das Vertrauen in die chemisch-pharmazeutischen Medikamente wachsen.

 

DNÄ: Naturheilmittel sind ja im Augenblick en vogue und zwei Drittel der Bevölkerung bezeichnen, wie Professor Noelle-Neumann berichtet, die Zulassung als wichtig. Wird sich in den nächsten Jahren in dieser Richtung etwas Entscheidendes tun?

Neumeister: Durch die zum großen Teil in der Öffentlichkeit geführte Diskussion bei der Novellierung des Arzneimittelgesetztes in den Jahren 1974 bis 1976 ist eindeutig das Bewusstsein der Bundesbürger in Bezug auf die Bedeutung der Naturheilmittel gestärkt worden.

 

Von gar nicht hoch genug einzuschätzender Bedeutung jedoch war sicherlich die politische Entscheidung, die 1976 bei der Verabschiedung des Arzneimittelgesetztes getroffen wurde, indem den Naturheilmitteln eine Position der Gleichberechtigung neben der Allopathie gegen massiven Widerstand eingeräumt wurde.

 

Ich persönlich hoffe, dass auch in Zukunft an dieser Entscheidung nicht gerüttelt wird, denn es war ein einstimmig bestätigtes Anliegen des Gesetzgebers, auch bei der vorgesehenen Nachzulassung aller Arzneimittel die Pluralität der wissenschaftlichen Lehrmeinungen und der Arzneimitteltherapie durch einen differenzierten Nachweis von Wirksamkeit unter Einbeziehung des Erfahrungswissens der besonderen Heilverfahren zu erhalten. Schließlich fehlt dem Staat das Recht und die Kompetenz, im Streit der Therapierichtungen Therapiemonopole zu schaffen.

 

Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung im Januar 1985 bei einer Bekanntmachung zur Nachzulassung bestätigt hat, dass „den Belangen der Arzneimittel der Anthroposophie, der Homöopathie und der Phytotherapie Rechnung zu tragen ist.“

 

DNÄ: Die Untersuchungen der Meinungsforscher sprechen dafür, dass eine extensivere Nutzung der Erfahrungsmedizin wesentlich zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen beitragen könnte. Glauben Sie, dass diese Aussage Konsequenzen für die Gesundheitspolitik der Bundesregierung haben wird?

Neumeister: Fortschrittliche Gesundheitspolitik, die sich vorrangig durch Finanzierungsprobleme auf die Notwendigkeit der Prävention besonnen hat, wird Angebote in Form von Naturheilverfahren nicht zurückweisen können, zumal ihre Bürger in immer stärkerem Maße Wünsche äußern, mit Naturheilverfahren behandelt zu werden.

 

Außerdem ist der Antagonismus zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde inzwischen – wie Rothschu sagt –„ einer Symbiose gewichen“. Wir finden doch erfreulicherweise in vielen Bereichen unseres Gesundheitssystems bereits fließende Übergänge zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde.

 

So ist heute auch die Behauptung, es fehlten Beweise für die Effizienz der Naturheilverfahren, überholt, denn wissenschaftliche Grundlagen wurden bereits in einem breiten Spektrum erarbeitet.

 

Berechnungen von Wannenwitsch, Schäfer und Blumke Ende der 70er Jahre mit dem Ergebnis, dass eine Motivierung der Bevölkerung zu gesundheitsbewusstem Verhalten jährlich 50 bis 60 Milliarden DM Krankheitskosten einsparen könnte, lassen hoffen, dass die Grundlagen der Naturheilverfahren auch in den unterschiedlichsten Modellen der Prävention, zum Beispiel auch in einer gemeindenahen Prävention, Anwendung finden werden.

 

Wichtig und unverzichtbar ist dabei natürlich die Partnerschaft zwischen Arzt und Bürger, wobei der Arzt eine prägende Rolle einnehmen sollte. Er hat immer wieder die Möglichkeit, die stets geforderte finanzielle Eigenbeteiligung des Bürgers an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ersetzen zu lassen durch eine praktische Eigenbeteiligung, die letztendlich ermöglicht wird durch Vermittlung des Wissens aus der Naturheilkunde, des Wissens um die Gesundherhaltung, des Wissens aber auch über Behandlungsmethoden, die aus der guten alten Hausmedizin stammen.

 

Dieses wäre die Brücke für einen Weg zu eigenverantwortlichem Gesundheitsverhalten, denn die Hausmittel, wie die Naturheilverfahren, jedoch auch die Selbstmedikation verlangen von dem einzelnen Menschen große Disziplin und aktive Beteiligung.

 

DNÄ: 67 Prozent aller Bundesdeutschen fordern: Die Wahl der erstattungsfähigen Medikamente muss dem Arzt überlassen bleiben, da sollten Krankenkassen und Staat kein Mitspracherecht haben. Wird die Bundesregierung den berechtigten Interessen dieser Mehrheit Rechnung tragen?

Neumeister: Es ist schon ein erheblicher Eingriff in die Therapiefreiheit des Arztes, wenn der Gesetzgeber – jedoch auch die Selbstverwaltung – durch Listen, denen mit Mühe das Mäntelchen „Kostendämpfung“ umgehängt wurde, die darunter versteckte Pharma-Ideologie zu verbergen suchen. Kostendämpfung ist ein durchaus legitimes und leider auch notwendiges Unterfangen, das aber in seiner Zielrichtung das Kostenbewusstsein der Bürger stärken soll. Es soll jedoch nicht dazu missbraucht werden, die Entscheidung des Parlaments zur Erhaltung der Pluralität der wissenschaftlichen Lehrmeinungen sowie der Arzneimitteltherapie auf kaltem Wege zu korrigieren und dabei zugleich erhebliche Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient vorzunehmen.

 

Der Arzt muss frei sein in seiner Entscheidung, ob er allopathische oder Naturheilmittel verschreiben will, ohne finanzielle Leitschiene individuell abgestimmt für jeden Patienten, den er am besten kennt in Bezug auf Gesundheitszustand, Veranlagung und Reaktion. Das ist Therapiefreiheit! Der Patient aber sucht sich seinen Arzt aus, und zwar den, der ihn am besten versteht und ihm hilft. Das ist freie Arztwahl! Diese „Markenzeichen eines freien Gesundheitswesens“ dürfen nicht nur als Aushängeschild genutzt werden, sondern sie müssen auch verteidigt werden.

 

DNÄ: Kürzlich erklärte Professor von Braun-Behrens: „Der Patient will nicht vermessen, sondern erkannt und behandelt werden“. Ist hier nicht möglicherweise der Schlüssel für die Abkehr von der naturwissenschaftlichen Supermedizin zu suchen?

 

Neumeister: Ich glaube nicht, dass hier der Kontrast zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde zu suchen ist. Diese Worte von Braun-Behrens weisen vielmehr auf den Kontrast zwischen Mediziner und Arzt hin, ganz gleich ob Schulmediziner oder Anhänger der Naturheilkunde:

 

"Einmal der Mediziner, der über ein ausgezeichnetes Wissen verfügt, der alle technischen Hilfsmittel, die der medizinische Fortschritt ihm bietet, zum Wohle seines Patienten anzuwenden vermag, nur die Seele und die Individualität nicht erkennt."

 

Andererseits der Arzt, der sein ebenfalls ausgezeichnetes Wissen, gepaart mit Menschlichkeit und dem Bemühen um Partnerschaft zum Wohle seines Patienten einsetzt, ihn berät und ihm Wege weist zurück zur Gesundheit, ihm hilft sie zu erhalten. Ein solcher Arzt wird offen sein für alle Lehrmeinungen und Therapierichtungen. Nur müssten sie ihm auch bei der Fortbildung nahegebracht werden.

 

DNÄ: Worin sehen Sie die Ursachen für die geringe Repräsentanz der empirischen Heilmethoden in der Ausbildung angehender Mediziner, obwohl der Markt es verlangt?

Neumeister: Ehrlich gesagt, dass kann ich auch nicht begreifen! Das Parlament hat leider wenig Einfluss auf die Gestaltung der Approbationsordnung. Ich muss das resignierend feststellen nach acht Jahren ernsthaften Bemühens – gemeinsam mit Kollegen – um Mitgestaltung der Approbationsordnung für Ärzte.

 

Leider aber wird gerade in Bezug auf die ärztliche Ausbildung angesichts der Schwierigkeiten durch die große Zahl zugelassener Studenten bei allen Novellierungsversuchen das Bemühen um wahre Qualität und die Notwendigkeit inhaltlicher Anpassungen an das veränderte Krankheitspanorama vergessen.

 

Aus diesem Grunde ist sicherlich auch das ungenügende Informationsangebot über Theorie und Praxis der Naturheilverfahren im Rahmen der Ausbildung erklärlich – jedoch nicht berechtigt. Schließlich bedarf gerade ein junger Arzt des Wissens um die in dem Menschen bereitliegenden Kräfte, aber er bedarf ebenso der Fähigkeit, diese Kräfte zu erwecken und zu unterstützen.

 

Die Bevölkerung zeigt ein immer stärkeres Interesse an den Naturheilverfahren und kann letztendlich erwarten, dass der Arzt zu einer sicheren Beurteilung der Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung in der Lage ist. Der erste große Durchbruch allerdings ist gerade dem bewundernswerten 90-jährigen Dr. Weiss in Tübingen gelungen, wo der erste Phytotherapie-Lehrstuhl eingerichtet wird. Hoffen wir, dass damit der Bann gebrochen ist.

 

DNÄ: Häufig wird von Fachleuten festgestellt, dass die Inkompetenz vieler Ärzte in Sachen Erfahrungsmedizin die Patienten in die Arme von Scharlatanen treibt, dass der Gesetzgeber aufgerufen ist, klärend einzugreifen. Wird man in absehbarer Zeit hier mit Entscheidungen der Bundesregierung rechnen können?

Neumeister: Der Gesetzgeber ist neben der Regelung der ärztlichen Ausbildung vor allem auch im Bereich der Forschung gefordert, mehr Transparenz und bessere Sachkenntnisse über die Erfahrungsheilkunde zu schaffen.

 

Eine systematische wissenschaftliche Begründung von Naturheilverfahren ist nicht zuletzt aufgrund der Unwirksamkeit eines Teils der bisher üblichen und anerkannten Messinstrumentarien und- methoden nicht erbracht worden.

 

Aus diesem Grunde haben wir im Bundestagsausschuss für Forschung und Technologie einen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, im Rahmen ihres erfolgreichen Programms „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit“ spezielle Instrumentarien und Methoden zu entwickeln, mit denen sich zu medizinischen Zwecken zum Beispiel auch psychische Komponenten und Lebensqualität in der Umgebung des Patienten messen lassen, die für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten bedeutsam sein könnten.

 

Dabei sollen jedoch die strengen wissenschaftlichen Kriterien, der Beweisbarkeit, Transparenz, Übertragbarkeit und Reproduzierbarkeit der Erkenntnisse berücksichtigt werden.

 

Man kann von solchen Forschungen erwarten, dass einerseits unsere Bürger vor unseriösen Heilmethoden geschützt, andererseits aber den seriösen Naturheilverfahren die notwendige Anerkennung zuteil wird. Schulmedizin und Naturheilverfahren müssen sich zum Wohle des Patienten sinnvoll ergänzen.

 

Ich bin persönlich der Auffassung, dass eine neu akzentuierte Gesundheitspolitik, bei der Gesundheit positiv definiert wird, als Leistungsfähigkeit, Eigenaktivität, schließlich Lebensfreude und Wohlbefinden, eine Gesundheitspolitik also, die nicht nur Krankheitsverhütung meint, dass diese Gesundheitspolitik auch Korrekturen an der Entwicklung der Heilkunde überdenken muss und insgesamt – unter voller Einbeziehung der Erfahrungsheilkunde – neue Akzente zu setzen hat.

 

Dr. Rolf-Günther Sommer

 

 

Die Neue Ärztliche, Nr. 66, Dienstag, 17. Dezember 1985