Baldrian statt Valium
Hightech- kontra sanfte Medizin
Was wir heute brauchen, sind nicht die harten Chemotherapeutika, sondern auch die ganze Palette der sanften Medizin, die empirisch durch viele Ärztegenerationen hindurch ihren wissenschaftlichen Nachweis erbracht hat. Dabei ist eines ganz klar, bemerkte Frau Dr. Veronica Carstens, Gattin des früheren Bundespräsidenten und Vorstandsmitglied der Fördergemeinschaft für Erfahrungsmedizin, gegenüber der DNÄ, wer heute als Arzt von Naturheilkunde nichts versteht, ist in absehbarer Zeit nicht mehr konkurrenzfähig.
DNÄ: Es gibt einen alten Grundsatz „Wer heilt hat recht und was heilt, ist richtig“. Wie ist aus Ihrer Sicht diese These zu beurteilen?
Carstens: Grundsätzlich stimmt es, dass eine Heilung der überzeugendste Beweis für die Wirksamkeit einer Therapie ist. Nur spielen manchmal bei Heilungen auch andere Faktoren mit, die man auf den ersten Blick nicht immer erkennen kann, zum Beispiel psychische Einflüsse, Witterung und Klimawechsel, Ernährungsumstellung, um nur einige zu nennen.
Deshalb sollten die Anhänger jeder Therapieeinrichtung bereit sein, sich prüfen zu lassen – auch um dadurch einer weiteren Verbreitung der betreffenden Therapie den Weg zu ebnen.
DNÄ: Kann es in der Heilkunde ein absolutes Primat einer bestimmten therapeutischen Lehre oder Methode geben?
Carstens: Ein absolutes Primat einer bestimmten Lehre sollte es nicht geben, denn alles ist dem Wandel unterzogen. Was wir heute als richtig ansehen, erweist sich morgen als falsch oder zumindest nur als Teilwahrheit. Gerade die Medizingeschichte ist auch eine Geschichte der Irrtürmer.
So kann man zum Beispiel den Magenschmerz mit Antacida, Kamillentee, Psychotherapie oder Homöopathie behandeln. Warum sollte man darauf bestehen, dass nur eine dieser Möglichkeiten die allein richtige ist? Die großen Erwartungen, die man in die Chemotherapie des Krebses gesetzt hatte, konnten nicht erfüllt werden.
Heute wenden sich mehr und mehr Ärzte der Misteltherapie zu, einer Therapie, die jahrzehntelang um Anerkennung rang, inzwischen aber von den meisten Krankenkassen anerkannt wird.
DNÄ: Eine Allensbacher Meinungsumfrage stellte fest, dass die meisten Menschen zu Naturheilmitteln aufgrund persönlicher Empfehlungen und weniger durch den Arzt gelangen. Glauben Sie, dass die Gründe hierfür in einer Inkompetenz der Ärzte zu suchen sind?
Carstens: Leider werden die Naturheilverfahren bis heute nicht in den Universitäten gelehrt – obwohl die Phytotherapie seit Menschengedenken angewandt wurde, die Akupunktur sich seit fast 3000 Jahren bewährt hat und die Homöopathie fast 200 Jahre lang erstaunliche Erfolge aufweisen konnte.
Wenn diese und andere Heilweisen während des Studiums nicht oder – noch schlimmer – nur mit geringschätzigen Kommentaren erwähnt werden, auch in der praktischen Weiterbildung nicht vorkommen, so nimmt es nicht wunder, wenn der niedergelassene Arzt keine Kenntnisse darüber besitzt. Es sei denn, er bildet sich durch die angebotenen Fortbildungstagungen weiter aus.
Voraussichtlich wird sich in naher Zukunft hier einiges ändern. Denn wie man hört, soll bei der Novellierung der Approbationsordnung die Einbeziehung der Naturheilkunde und der Homöopathie in den Prüfungsstoff des Staatsexamens vorgesehen sein.
DNÄ: Gibt es Gründe, warum in der medizinischen Ausbildung an den Hochschulen die Methoden der Alternativmedizin heute kaum eine Rolle spielen?
Carstens: In den letzten 150 Jahren hat die Medizin durch die Entwicklung der Bakteriologie und Hygiene, durch immer bessere Operationsverfahren, durch die Einbeziehung von Physik, Chemie und Technik solche Erfolge errungen, dass man glaubte, alle bisherigen alten, durch Tradition überlieferten Heilverfahren über Bord werden zu können. Es entstand eine Wissenschaftsgläubigkeit, die nur das gelten ließ, was mit Maß und Zahl festgehalten werden konnte.
Das konnte die Naturheilkunde nicht aufweisen, denn wer sollte solche Forderungen auch in ihrem Bereich durchgeführt haben, da sie ja an den Universitäten und Forschungsinstituten nicht mehr ernst genommen worden war.
Ein weiterer Grund ist, dass die derzeitigen Hochschullehrer selbst keine Erfahrungen mit biologischen Heilweisen haben und sich deshalb außerstande sehen, diese zu lehren. Menschlich verständlich auch, dass man nicht gern das in seiner Fakultät gelehrt sehen möchte, was einem selbst ganz fremd ist und sich vielleicht zur Rivalität entwickeln könnte.
DNÄ: Wie ist zu erklären, dass besonders jüngere Kollegen ein vermehrtes Interesse an naturheilkundlichen Verfahren zeigen?
Carstens: In der Jugend wächst ganz generell die Zahl derer, die sich mit der Natur verbunden fühlen und folglich auch Naturheilweisen bevorzugen. Zum anderen erkennen die frisch niedergelassenen Kollegen bald, dass immer mehr Patienten die Einbeziehung der Naturheilkunde in ihre Behandlung wünschen. Wer hiervon nichts versteht, ist heute nicht mehr konkurrenzfähig.
DNÄ: Oft wird die Kontroverse Schulmedizin – Alternativmedizin auf die Formel gebracht „Baldrian statt Valium“. Wird man auf dieser Basis künftig diskutieren müssen?
Carstens: Diesem konkreten Beispiel möchte ich zustimmen. Allerdings wird Baldrian nicht in allen Fällen helfen, aber man sollte doch immer versuchen, zunächst milde, nebenwirkungsfreie Medikamente einzusetzen.
Im Übrigen geht diese Kurzformel aber am Wesentlichen vorbei. Denn die großen Therapieformen der Naturheilkunde, wie die Homöopathie, die Kneipp-Therapie oder Akkupunktur, haben immer einen ganzheitsmedizinischen Ansatz.
Wenn ein Patient zum Beispiel wegen Migräne den Arzt aufsucht und dieser ein homöopathisches Mittel einsetzen will, so wird er nicht nur nach der Häufigkeit, den auslösenden Ereignissen und den Modalitäten des Schmerzes fragen, sondern auch nach den Essensgewohnheiten, der Verdauung, dem Schlafrhythmus und dem psychischen Verhalten, um nur einiges zu nennen. Erst dann steht der ganze Mensch vor seinem geistigen Auge und nur durch Einbeziehung aller Faktoren sind die Fehlregulationen, zu denen auch die Migräne gehört, zu beseitigen.
Also nicht einfach Schmerzbekämpfung, sondern Wiederherstellung des funktionellen Gleichgewichts – das ist echte Naturheilkunde.
DNÄ: Naturheilkundlichen Verfahren wird eine mangelnde, wissenschaftliche Überprüfbarkeit vorgeworfen, aber schließt diese Methode per se nicht eine Überprüfbarkeit im naturwissenschaftlichen Sinne aus?
Carstens: Das stimmt meines Erachtens nicht. Auch Naturheilverfahren lassen sich prüfen. Bei manchen allerdings wird man sich bemühen müssen, spezielle Prüfmethoden zu finden, die dem betreffenden Heilverfahren angemessen sind. So zum Beispiel bei der Homöopathie, die ja sehr individuell und ganzheitsmedizinisch angewandt wird und sich deshalb schwer in randomisierte Doppelblindstudien pressen lässt.
Wir sind derzeit von NATUR und MEDIZIN aus bemüht, solche wissenschaftlichen Wirksamkeitsprüfungen in Zusammenarbeit mit den Universitäten zu erarbeiten.
Im Übrigen sollte nicht vergessen werden, dass die alten Naturheilverfahren eine sehr lange Tradition haben und durch Empirie vieler Ärztegenerationen sehr wohl einen wissenschaftlichen Wirksamkeitsbeweis erbracht haben.
Es ist doch ein Unterschied, ob man bei einer völlig unbekannten chemischen Substanz Wirkung und Nebenwirkung sehr sorgfältig prüfen muss oder ob eine jahrhundertelang benutzte Heilpflanze ihre therapeutische Wirkung immer wieder unter Beweis gestellt hat, wie zum Beispiel die Kamille, die Arnika, der Sonnenhut, Calendula oder Augentrotz.
DNÄ: Der Therapietrend der klassischen Medizin führt weg von Kombi- zu Monopräparaten, zum Teil auch, um die Kontraindikationen besser in den Griff zu bekommen. Gerade Naturheilmittel enthalten eine Fülle von Wirksubstanzen. Wie schätzen Sie hier die Gefahren von Nebenwirkungen ein?
Carstens: Die Naturheilmittel – ich denke hier besonders an die Heilpflanzen – haben sich als Ganzes bewährt. Es scheint so zu sein, dass das Bouquet der Inhaltsstoffe im Zusammenklang die gewünschte Wirkung hervorruft und als solches eine Monosubstanz ist.
So glaubte man jahrelang, dass Azulen, eine Teilsubstanz der Kamille, besonders wirkungsvoll sei. Durch neueste Forschungen konnte aber nachgewiesen werden, dass die ganze Kamille – also alle ihre Inhaltsstoffe – weit bessere Erfolge brachten als Einzelextrakte.
Von dieser Regel gibt es – wie immer – Ausnahmen. Bei den Digitalispflanzen zum Beispiel bewährte sich die Isolierung der Reinsubstanzen Digitoxin und Digoxin, die man dadurch sehr genau in Milligramm dosieren kann. Das ist gerade bei der Therapie der Herzinsuffizienz von großer Bedeutung.
DNÄ: 40 Prozent aller Bundesdeutschen – so stellte eine Allensbacher Studie fest – würden sich lieber in einem Krankenhaus mit homöopathischen Heilmethoden behandeln lassen. Kann das als Misstrauensantrag an die Schulmedizin verstanden werden?
Carstens: Heute befällt viele Menschen ein Unbehagen, wenn sie an Krankenhäuser denken. Ich erinnere mich noch gut an die Anfangszeit meiner Praxis in den 60er Jahren. Damals hörte ich oft den Wunsch „Ich würde mal gern ins Krankenhaus gehen“ – auch dort, wo es nicht besonders sinnvoll schien.
Wenn ich heute einen Patienten wegen einer dringend notwenigen Maßnahme ins Krankenhaus einweisen möchte, heißt es oft „Bitte nicht“.
Die Patienten haben Angst vor der am Fließband vollzogenen Diagnostik, den furchterregenden Apparaten, dem unpersönlichen Betrieb. Sie vermissen das erklärende, beruhigende Gespräch mit dem Arzt.
In den homöopathisch-anthroposophischen Krankenhäusern ist im Allgemeinen die Atmosphäre persönlicher und freundlicher. Wahrscheinlich bringt die besondere Form von Diagnostik und Therapie bereits einen engeren Kontakt zwischen Patient und Therapeut zustande.
DNÄ: Häufig werden Naturmittel-Verwender als Träumer abqualifiziert. Professor Noelle-Neumann konnte nachweisen, dass gerade Menschen mit einer überdurchschnittlichen Persönlichkeit stärker zu naturheilkundlichen Verfahren greifen. Wie passt das zusammen: Meinungsbildner und Alternativmedizin?
Carstens: Nach meiner Beobachtung neigen ganz allgemein naturverbundene Menschen mehr der Naturheilkunde zu. Darüber hinaus sind es die kritischen, selbstständig denkenden und gut informierten Patienten, die biologische Heilverfahren bevorzugen. Dazu gehören ebenso Wissenschaftler aus dem Bereich der Naturwissenschaften wie Politiker und führende Persönlichkeiten aus der Wirtschaft – alle keine Träumer.
Sie beobachten die Entwicklung in der Medizin sehr nüchtern und zeigen zunehmend Sympathien für die biologischen Heilweisen – betonen aber immer wieder, dass sie eine Kombination von Schulmedizin und Naturheilkunde für optimal ansehen.
DNÄ: Kritiker behaupten, der Boom der Naturheilkunde ist mit dem unausrottbaren Hang der Patienten zum Ungewöhnlichen zu erklären. Wie erklären Sie die Ursache dafür, dass – trotz unbestrittener Erfolge der klassischen Medizin – die Erfahrungsheilkunde stark an Boden gewonnen hat?
Carstens: Weil wir die Grenzen der klassischen Medizin erkannt haben und zwangsläufig neue Wege der Heilung suchen bzw. alte wiederfinden müssen. Es kommt hinzu, dass die Naturheilverfahren den Patienten die Möglichkeit geben, aktiv an seiner Gesundheit mitzuarbeiten – sei es durch Kneipp-Anwendungen, Ernährungsumstellung, Sammeln von Heilpflanzen oder durch Umschläge, Wickel, Reflexzonenmassage oder Atemtherapie.
Insgesamt wird der Patient zum Partner des Arztes – es entsteht ein Wir-Verhältnis. Wie oft hört man dann den Satz „Herr Doktor, ich glaube, das kriegen wir wieder hin“. Dadurch entsteht eine Zuversicht, die für den Heilungsvorgang enorm wichtig ist.
DNÄ: Jede Therapie muss ja von der Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten bezahlt werden. Wie schätzen Sie die Kosten-Nutzen-Relation bei einer Chemotherapie, wie bei einer Behandlung durch Methoden der Erfahrungsmedizin ein?
Carstens: Zweifellos ist die Erfahrungsmedizin erheblich preiswerter. Das zeigte 1984 deutlich eine Prüfung der Arzt- und Therapiekosten bei homöopathischen Ärzten im Vergleich zu Ärzten, die rein nach klassischen Methoden arbeiten. Die homöopathischen Ärzte lagen im Schnitt um 30 Prozent niedriger.
DNÄ: Frau Dr. Carstens, Sie sind von Hause aus Internistin, also Schulmedizinerin. Hat bei Ihnen die Hightech-Medizin ausgespielt, sind Naturheilmittel die besseren Pillen?
Carstens: Wir brauchen unbedingt beides. Die Hightech-Medizin hat ihre großartigen Seiten. Denken Sie nur an die Nierensteinzertrümmerung, die Augenoperationen mit Laserstrahlen, die hochdifferenzierten Ohroperationen, die heute möglich und meist sehr erfolgreich sind.
Aber wir brauchen auch die ganze Palette der sanften Medizin: Die Heilpflanzen, die Homöopathie, die Kneipp-Therapie, die Diätetik, die Atemtherapie, um nur einige zu nennen. Mal wird die eine, mal die andere Therapie – mal auch beide notwendig sein. Nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander nur können wir die Probleme der Zukunft lösen.
Dr. Rolf-Günther Sommer
Die Neue Ärztliche, Nr. 71, Montag, 30. Dezember 1985